Die Fahrkarte

"Bist du fertig?" Maria rubbelt sich ihr dunkelblondes Lockenhaar trocken.
"Jaha!", antwortet Osman. "Du kannst rein!"
"Wurde aber auch Zeit. Sag mal, wann fährt der Zug?"
"Na, so ich schätze mal, ungefähr ..."
"Ist das dein Ernst?"
"Viertel vor zwölf, ungefähr!"
"Ungefähr. Noch unklarer gehts nicht, oder?"
"Maria, sei doch nicht immer so pedantisch."
"Und du, sei doch bitte nicht immer so schlampelig. Das gibt's doch nicht."
"Schlampelig, schlampelig. Das heißt schlampig! Lern doch endlich mal besser deutsch!", korrigiert Osman sie und trottet aus dem Bad.
"Mann, Osman. Ja klar. Ich kann nicht richtig deutsch! Als dein Papa in Anatolien nicht in die Schule gehen konnte, weil er die Herden der Familie hüten musste, konnte er auch nicht ahnen, dass er mal einen Sohn haben würde, der seiner russischstämmigen Freundin Fehler in Deutsch vorwerfen wird. Und die hier mal wieder alles selber machen muss. Aber die Tickets hast du schon gekauft und ausgedruckt?"
"Ich glaub' schon. Und lass gefälligst meinen Vater aus dem Spiel."
"Ich fasse es nicht!"
"Ich kann mich nicht um alles selber kümmern. Ich schraub doch von morgens bis abends in der Werkstatt an Autos rum. Das ist wirklich nicht so einfach." Mittlerweile steht er nackt vor ihr. Sie lächelt an ihm abwärts.
" Oh!" Sie grinst.
"Nichts oh, keine Zeit für so was heute."
"Schade."
"Ja, aber nichts zu machen. Mustafa heiratet übermorgen. Wir müssen nach Hamburg, und wir haben noch nichts für ihn. Also."
"Aber die Tickets brauchen wir trotzdem."
"Werden schon wieder auftauchen. Mach dir keine Sorgen." Sagts, und gibt ihr einen Kuss, der sie sofort alle Vorsätze wieder vergessen lässt.
Später beim Frühstück in der Küche.
"Osman?"
"Hmm?"
"Bist du schon mal Zug gefahren?"
"Gib mir mal bitte die Butter."
"Hast du meine Frage nicht verstanden?"
"Hmm?" Er schnappt sich die Butter, ohne sich zu bedanken. Irgend etwas beschäftigt ihn. Maria merkt sofort, dass ihn etwas beschäftigt.
"Ist was?"
"Wieso, was ist?"
"Das frag ich dich."
"Nichts." Er beschmiert sich sein Weissbrot mit Orangenmarmelade und beißt genüsslich hinein. Dass sich seine Wangen verfärben und Wärme in ihm aufsteigt, merkt nicht nur er.
"Ach, natürlich. Nichts. Wie immer."
"Maria, musst du so rumzicken jetzt? Das war vorher so schön."
Sie ist fertig mit dem Essen, stützt sich mit beiden Armen auf und schlürft bedächtig Kaffee aus ihrer Tasse.
"Osman, ich zicke nicht."
"Tust du doch."
"Nein."
"Lass den Quatsch." Er steht auf, will Teller und Tasse ins Spülbecken stellen. Fahrig stellt er die Tasse aber zu weit an den Rand. Sie purzelt herunter und zerbricht in tausend Stücke.
"So ein Mist!", verkündet er aufgebracht. Er kann seine Emotionen nicht mehr beherrschen und ist den Tränen nahe. Damit Maria das nicht sofort erkennt, holt er Schaufel und Besen, kehrt die Scherben auf und wendet sich von ihr ab. Als sie die Geräte wieder aufräumt, merkt sie, dass beide Griffe nass sind, und zwar nicht vom Kaffee.
"Schweiß", denkt sie bei sich. "Schweiß. Was um alles in der Welt kann einen Menschen zum Schwitzen bringen? Was nur?" Gedanklich geht sie alle Möglichkeiten durch. "Wärme? Kann nicht sein, meine Wohnung ist maximal neunzehn Grad warm. Osman stammt ja nicht aus Grönland. Vielleicht würden Grönländer hier schwitzen, aber keine Südeuropäer. Fieber? Kann auch nicht sein, Osman ging es vorher noch ganz gut. Hmm!" Ein wohliger Schauer durchfährt ihren Körper beim Gedanken an vorhin, aber nur kurz. "Und man schwitzt eher, wenn das Fieber sinkt. Stress? Kann doch wirklich nicht sein, heute ist Samstag. Da gibt's für die meisten keinen Stress. Außer beim Fußball vielleicht? Aber da steht heute bei Osman nichts an." 
"Ist was?", fragt er sie ohne Hintergedanken.
"Nein."
"Du hast doch was," insistiert er.
"Ist nix." Sie schmunzelt. Unentschieden, denkt sie bei sich. 
"Schatz, sag mir, was ist. Sags dem guten Osman." Er hilft ihr auf.
"Danke, und nein. Der gute Osman hatte vorhin der guten Maria ja auch nichts gesagt. Also."
"Du bist schon wieder zickig." Und Osmans Hand ist immer noch verschwitzt.
"Und dir ist es warm."
"Ist es nicht."
"Warum schwitzt du dann?"
"Komm mit, wir müssen noch die Koffer packen."
Er lenkt schon wieder ab, genauso wie vorhin. Ob das mit Hamburg zusammenhängt? Oder mit der Zugfahrt? Hat er vor irgend etwas Angst? Vor dem Zug? Irgendwo hatte sie schon einmal darüber gelesen. Es gibt Menschen, die panische Angst vor bestimmten Situationen haben. Angst vor dem Fliegen im Flugzeug zum Beispiel. Angst vor grosser Höhe. Panik in Menschenansammlungen. Panik in engen Räumen, zum Beispiel in Aufzügen. Angst vor einer Seefahrt.
"Ja, ich komm," sagt sie, ohne von ihrem Gedankengang abzuweichen. "Andererseits, Osman, ich schau mal im Internet nach dem Zugfahrplan, und dann nach unseren Tickets."
"Ist okay, dann kann ich in Ruhe die Koffer packen."
"Klar, tu das." So, mein Lieber. Und dann schau ich gleich mal nach deinen Angstsymptomen. Im Netz wird da schon was zu finden sein. Aber vorher muss ich noch mit deinem Vater sprechen.
"Maria, mein Engel. Wie hast du das herausgefunden? Hat er dir davon erzählt?", fragt sein Vater sie, nachdem sie ihm die kleine Vorgeschichte erklärte und ihn fragte, ob ihm über Ängste bei Osman irgend etwas bekannt sei.
"Was herausgefunden?"
" Na, mit dem Unfall damals mit der Straßenbahn!"
"Welcher Unfall?"
" Das ist so ungefähr vier Jahre her. Osman war mit seiner Mutter in der Stadt zum Einkaufen. Da war es passiert. Ein paar junge Kerle hatten an der Haltestelle eine Rangelei. Osman stand an der Kante. Plötzlich schubst ihn aus Versehen jemand von hinten, und er fällt auf die Gleise. Und natürlich kam die Bahn gerade. Der Fahrer konnte gerade noch bremsen und erwischte Osman nur leicht. Er hatte sich einige Prellungen und eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen. Und natürlich einige Schürfwunden. Hat geblutet, der Arme. Und dann die ganze Aufregung. Krankenwagen, Polizei, und viel Aufregung. Seither kann er in keine Bahn mehr sitzen. Er bekommt da immer Angstzustände, auch schon an einer Haltestelle. Aber er fährt ja eh lieber Auto."
"Das bringt uns aber jetzt herzlich wenig, es ist ja kaputt. Wir fahren eh mit der Bahn nach Hamburg."
"Ihr könnt ja auch morgen mit uns fahren."
"Der Zug ist schon gebucht. Osman muss da halt jetzt durch. Er will ja auch." Und ich möchte nicht die ganze Zeit morgen in deinem alten Ford Transit sitzen, mit sieben weiteren Personen, denkt sie weiter. "Aber trotzdem, danke für das Angebot. Wir sehen uns dann morgen Abend in Hamburg. Tschüss dann."
"Wenn was ist: Die Familie hält zusammen. Tut sie immer. Auf Wiedersehen."
"Ja, die Familie", denkt sie, als sie den Computer hochfährt. "Ist manchmal ein bisschen viel. So, erstmal schau ich nach Angst vor der Zugfahrt. Ob da was drin steht? Sofortberatung bei Panikattacken? Klingt doch gut. So. Und als erstes tut sich mal Werbung auf für die richtigen Medikamente. Na also, sag nochmal einer irgendwas gegen das Netz. Soforthilfe in allen Lebenslagen, auch beim Bahnfahren. Prima! Die besten Single-Börsen? Das brauch ich nun wirklich nicht. Einen neuen Flatrate-Vertrag bei Kabel Hamburg? So ein Quatsch. Angst und Depressionen-Selbsthilfegruppe? Zu spät. Ich brauch jetzt was, jetzt sofort." Sie vertieft sich in den Text, der jetzt folgt. "Hmm! Klingt interessant. Vermeidung führt zur Angstverstärkung? Absolut meine Meinung. Man muss ihn also vorsichtig an diese Situationen wieder gewöhnen. Richtig. Das hilft. So gehts. Panik-Attacken Soforthilfe! Na also. Mein Thema. Zur Sicherheit hol ich uns das Medikament aus der Werbung. Hilft ja doch manchmal."
" Schatz, hast du das Ticket?"
"Jaha, gleich."
"Oh, Schitt. Vergessen", denkt sie. Schnell über Deutsche Bahn Reservierungen überprüft. Osman hatte schon gebucht und bezahlt. Dann noch die Tickets und die Platzkarten für den Intercity ausgedruckt, gefaltet und eingesteckt. Computer herunterfahren, erledigt.
"So, mein Lieber." Sie hält ihm alles unter die Nase, bis auf den Ausdruck für das Medikament und die Informationen über die Panikattacken. Die steckt sie sich in die Handtasche.
Als sie die Wohnung verlassen, bepackt mit allem Notwendigen für die vier Tage in Hamburg, fasst er sie an der Hand. Wieder dieser Schweiß.
"Du bist das beste Mädchen der Welt."
"Ich weiss." Sie lächelt ihn an und gibt ihm einen dicken Kuss.
"Und du bist der größte Dickkopf der ganzen Welt."
"Ich weiss nicht." Er lacht verkrampft und abgehackt. Nervös hält er sich am Treppengeländer fest. Feuchte Flecken bilden sich unter seinen Achselhöhlen, als sie die Bushaltestelle erreichen.
"Jetzt wirds ernst", denkt sie. Sein Zustand ändert sich nicht, er ist nervös, hat sich aber unter Kontrolle. Auch als er einsteigt, zeigt er keine besorgniserregende Regung. Als sie den Bahnhof erreichen, steigt er ruhig aus und läuft neben ihr her. Vor der Apotheke in der Bahnhofshalle bleibt Maria stehen, mit Osman an der Hand.
"So, mein Lieber. Du setzt dich jetzt schön hier hin." Sie dirigiert ihn mit seiner schweißnassen Hand auf eine freie Holzbank. Schön sitzenbleiben, bis ich wieder da bin. Ich hol hier jetzt etwas."
"Was denn?" Er schaut sie unsicher an.
"Du wirst sehen." Sie lächelt und verschwindet im Laden.
"So", meint sie nur, als sie herauskommt, und setzt sich neben ihn. "Jetzt wollen wir mal sehen, wie dir zu helfen ist."
Er beugt sich vornüber. Sie streichelt ihm über den Nacken.
"Ich will heim. Hab keine Lust auf die Hochzeit. Hab mich eh mit Mustafa verkracht." Er bewegt seinen Oberkörper auf und ab, fast wie die Männer in einer Moschee. Er rückt nach links und rechts, wird bleich im Gesicht.
"Mir ist schlecht, ich bin krank. Ich will heim."
"Nichts da, du bist topfit. Wir drücken uns jetzt nicht. Das wäre vollkommen falsch. Du willst doch nach Hamburg!"
"Will ich nicht." Er ist den Tränen nahe und schüttelt sich.
"Doch, du willst, wir wollen. Und wir haben die Tickets. Die lassen wir jetzt nicht verfallen. Und denk an die Ehre der Familie." Ein Rettungsversuch ihrerseits. Ist er dadurch umzustimmen? Die Ehre der Familie ist ihm doch immer wichtig. Er schaut sie Hilfe suchend an.
"Maria, ich ..."
"Ja?"
"Ach, nichts."
"Du immer mit deinem ewigen Nichts. Nie ist irgend etwas, ausser vielleicht mal mit deinem Auto. Aber mit dir? Immer nur nichts, nichts." Sie schreit ihn an. "Wach auf, steh endlich mal zu dir selber. Wenigstens jetzt dieses eine Mal. Osman, ich weiss Bescheid. Ich habe vorhin mit deinem Vater geredet." 
" Ach, je."
"Ja. Ach, je. So. Steh zu deinem Unfall von damals. Deine Seele sagt dir jetzt was, nach diesem grossen Schreck damals. Du willst Bahn fahren. Jetzt überzeug auch deine Seele davon. Jetzt, hier und gleich. Ich bin bei dir, es kann dir nichts passieren." Sie massiert ihm gleichmäßig seine Hände und schaut ihm tief in die Augen. "Schau mich an, und dann atme ganz ruhig ein und aus." Er schaut auf den Boden ins Nichts. "Schau mich an. Und ganz ruhig und langsam atmen.", bittet sie ihn nun mit mehr Nachdruck. Schließlich folgt er ihren Bitten. 
"Ich habe hier Tabletten für dich." Sie holt eine Wasserflasche aus ihrem Rucksack. "Die nimmst du jetzt." Er schaut sie fragend an, und traurig. "Osman, du bleibst trotzdem mein Osman. Ich werde bei dir bleiben, solange du möchtest. Egal, was du hast." Sie redet ruhig auf ihn ein. Allmählich beruhigt er sich etwas. "Sei nicht schwach, sei stark. Überwinde deine Angst. Zwing sie auf die Knie. Dir kann nichts passieren, ich bin bei dir. Wenn du willst, Hand in Hand, bis Hamburg. Und atme gefälligst ganz langsam und gleichmäßig So, genau so."
"Danke." Er nimmt die Tablette und schluckt sie mit Mineralwasser herunter. Allein das beruhigt ihn. Aber Marias Worte tun ein Übriges. Sie fühlt heimlich seinen Puls. Er beruhigt sich weiter, sieht aber immer noch auf den Boden. "Schau mich bitte endlich an!" Maria gibt ihm einen sanften Druck auf das Handgelenk. Er hebt seinen Blick.
"Ich bin bei dir. Und jetzt schau bitte auf die Anzeigetafel und sag mir, auf welchem Bahnsteig unser Zug abfährt."
"Gleis vier, und mir ist schwindelig."
"Osman, überwinde dich. Es bringt nichts, wenn du deiner Angst immer wieder nachgibst. Du musst üben, deine Angst zu überwinden. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern nur in kleinen Schritten. Und das hier ist der erste. Und jetzt steh ganz langsam auf. Ich bin immer bei dir. Du wirst sehen, es geht bestimmt."
Ganz langsam laufen sie in Richtung Gleis vier.
"Oh, er steht schon da. Wir sollten uns beeilen."
Osman schweigt und folgt ihr an der Hand, fast wie ein Hündchen. Und genauso zahm. Als sie zu ihrem Waggon kommen, beginnt er zu zittern. Seine immer noch schweißnasse Hand überträgt dieses Zittern wie ein Beben auf Marias Arm. Sie dreht sich wieder zu ihm, dass sich ihre Gesichter fast berühren.
"Osman," sag sie, "alles ist gut."
"Ja," sagt er nur, küsst sie kurz und besteigt dann vor ihr den Waggon.
"Mir ist schwindelig meine Füsse schwanken. Und mein Magen tut weh."
"Ja, und deine Hände schwitzen unheimlich. Osman, das ist alles ganz normal. So, hier sind unsere Plätze. Du fährst vorwärts." Sie nehmen Platz. Er schließt die Augen.
"Alles läuft ab wie im Film."
"Auch da ist ganz normal. Und jetzt Versuch, dich auszuruhen." Er beruhigt sich tatsächlich. Vorsichtig lässt sie seine Hand los. Sofort verschränkt er seine Arme vor der Brust.
Sie kramt sich eine Zeitschrift aus der Tasche und zieht sich etwas zurück von ihm. "Jetzt muss er alleine durch. Sie gibt ihm seine Fußballzeitschrift Er beginnt zu lesen und merkt nicht, wie sich der Zug langsam in Bewegung setzt. Anfangs blättert er ziemlich hektisch und unkonzentriert in der Zeitschrift. Dann aber scheint er über den Text alles zu vergessen.
Kurz vor Kassel-Wilhelmshöhe wird mit ziemlichen Gepolter die Minibar durch geschoben. Mit gleichgültigem Gesichtsausdruck preist die junge Frau heiße und kalte Getränke sowie Sandwiches und heiße Würstchen an. Osman schaut irgendwie durch sie durch, sein Blick zeugt von der Abwesenheit seines Geistes.
"Einen Kaffee bitte."
"Ja, für mich auch. Und bitte ein Käse-Sandwich", schließt sich Maria an.
"Und bei dir, alles klar?"
Osman kommt nicht mehr zur Antwort. Ziemlich abrupt ist der Zug zum Stehen gekommen. Nicht irgendwo, sondern in einem Tunnel.
"Nein Eiro Achzisch, bittescheen", lässt sich die Dame mit der Minibar vernehmen.
"Stimmt so." Maria gibt ihr einen Zehn-Euro-Schein. "Und wann gehts denn weiter, wissen sie das?"
"Na hör'n se mal! Woher soll isch's denn wiss'n? Sie sinn' ja gut! Isch bin keen Hellsäher!" erhält sie in lupenreinem sächsisch zur Antwort.
"Aha.", meint Maria kleinlaut und schaut zu Osman, der in kleinen Schlucken den heissen Kaffee zu sich nimmt. Plötzlich erfüllt den Waggon ein lautes Zischen. Die Passagiere schauen sich an. Dann wird es wieder leiser, aber nur, um im nächsten Augenblick noch lauter zu werden als am Anfang. Dann gar nichts mehr. Ein Schlag, und dann Dunkelheit. So etwas wie eine Schockstarre setzt ein. Vollkommene Finsternis. Jeder verharrt erstmal. Vorsichtige Fragen werden gestellt, die von den Passagieren keiner beantworten kann. "Was ist das?" Kinder gieksen aus Übermut, oder um sich die Angst zu vertreiben. A apropos Angst:
"Osman?"
"Bin hier, Baby."
"Alles klar?"
"Wieso nicht?"
Marias fragendes Gesicht wird von der sich einschaltenden Notbeleuchtung allmählich erhellt. Osman sitzt ruhig da und trinkt seinen Kaffee. Außerdem hat er sich aus dem Rucksack eine Packung Kekse geholt, die er jetzt nach und nach vertilgt.
"Ich glaubs ja nicht." Sie muss schmunzeln. "Und?"
"Nichts Und! Was soll sein?"
"Was ist mit deiner Angst?"
"Frag nicht danach, wird so besser sein."
"Gut, wenn du meinst."
Nach ungefähr zehn Minuten, in denen gar nichts geschah, meldet sich eine undeutlich schnarrende Stimme aus dem Lautsprecher. Sofort verstummen die Gespräche, so kann man undeutliche Wortfetzen entziffern. Bitten um Entschuldigung, geht in wenigen Minuten weiter. Blitzschlag Überspannung. Naja. Verzweifelte Manager beginnen, unruhig auf ihren Sitzen hin und her zu rutschen und halten ihre Smartphones in komischen Stellungen in die Luft. Bringt aber nichts. Allmählich werden die Stimmen lauter. Neben Osman sitzt auch so einer, der unflätige Worte in den Raum stellt. Er schaut ihn schräg an, bringt aber nichts. Das Smartphone wird über Osmans Schoss gehalten, wieder ohne Erfolg. Osman räuspert, bringt auch nichts.
"gehts noch, Mann, beruhigen sie sich doch. Wird auch nicht besser, wenn sie so rumhampeln." Er ist jetzt echt genervt. Maria schmunzelt schon wieder. "Es scheint ihm besser zu gehen, gibt anderen schon wieder Ratschläge," denkt sie bei sich.
Nach einer ganzen Weile ein Ruck. Der Zug bewegt sich wieder, aber ganz langsam. Und so geht es weiter bis Kassel. Wer aber gedacht hatte, jetzt gehts weiter, liegt vollkommen im Irrtum. "Alles aussteigen bitte, dieser Zug endet hier. In wenigen Augenblicken trifft ein weiterer Intercity ein, der nach Hamburg fährt. Die Sitzplatzreservierungen gelten nicht mehr."
Wozu auch, es gibt eh keine Sitzplätze mehr. Maria und Osman also mal wieder richtig drin im Getümmel. Kein Gedanke mehr an irgendwelche Ängste, weder bei ihr noch bei ihm.
Hamburg Hauptbahnhof, mit zwei Stunden Verspätung. Mustafa steht da mit seinen beiden Schwestern, alle schick angezogen, aber leicht genervt.
"Alter, wie gehts?"
"Könnte nicht besser sein.", lässt Osman sich vernehmen. Maria wackeln die Ohren. Sie fällt etwas zurück, ihr Mund bleibt offen, die Augen starr auf Osman gerichtet. Aishe fällt's auf, die fragt erstaunt: "Ich dachte, Osman hat Angst vor dem Zugfahren?"
"Wie war die Fahrt?"
"Super, bis Kassel. Dann hat's im Tunnel geknallt, alles wurde dunkel, Mann, nichts mehr zu sehen. Alle schrien wie verrückt, und versuchten zu telefonieren. Nur die Displays der Handys gaben Licht. Mann, voll krass. Hab erstmal für Ruhe gesorgt, dann ging's weiter, aber nur bis Kassel, Mann. Dann raus aus dem Zug, hab erstmal geschaut, was zu tun ist. War voll die Hektik. Hab das aber gut organisiert, dann kam der andere Zug. Maria wäre da ohne mich voll aufgeschmissen gewesen."
"Maria, stimmt das?", will Aishe wissen.
"Naja, in gewissen Ansätzen. Osman ist eben Osman."