Montanara Cour

Annes Lied  ...  eine kleine Leseprobe

Einmal in meinem Leben wollte ich auf die Insel Neuwerk fahren, die der Nordseeküste vorgelagert war. Telefonisch hatte ich im Sommer ein Zimmer in der Pension Altes Haus, das in der Mitte der kleinen Insel lag, für Ende Oktober reserviert. Für diese Jahreszeit war die Buchung kein Problem. Ich hatte mich auf die Reise gefreut, denn ich versuchte so, dem Alltag für eine Weile zu entfliehen. Da mangels Passagieren kein Schiff mehr die Insel anlief, blieb der Wattwagen die einzige Verbindung dorthin.

 

Sieben Stunden, nachdem ich von Zuhause losgefahren war, parkte ich mein Auto auf dem Parkplatz in Sahlenburg, der den Besuchern der Insel Neuwerk vorbehalten war. Ich lief und zog meinen Koffer eine kleine Straße entlang bis zur Strandpromenade hinter dem Deich. Die frische Seeluft tat mir nach der langen Autofahrt gut. Es war spät am Nachmittag dieses herbstlichen Samstags. Die Wattwagen mussten die Zeit der Ebbe ausnutzen, um die zehn Kilometer von der Insel nach Sahlenburg und wieder zurück zu fahren. Gelänge dies nicht, müsste man sich in Sahlenburg kurzfristig nach einer Unterkunft umsehen.

 

Ein verlockender Duft nach frisch gebackenem Brot entströmte einer kleinen Bäckerei. Ich leistete mir einen Becher heißen Milchkaffee und ein Fischbrötchen und setzte mich auf eine der Parkbänke. Bis zur Ankunft des Wagens waren noch gut zwanzig Minuten Zeit. Als ich mein Mahl beendet hatte, stand ich auf, warf den leeren Becher in einen Abfalleimer, der neben der Bank angebracht war, zündete mir eine Zigarette an und lief über den Deich auf den Strand. Die Dämmerung setzte bereits ein, als ich in einiger Entfernung drei Pferdewagen, die vom Meer in Richtung des Strandes fuhren, gewahr wurde. Jeder der Wagen war mit zwei Pferden bespannt.

 

»Moin« begrüßte mich einer der Kutscher, nachdem die Kolonne das Festland erreicht hatte. »Wo wollen sie denn hin?«

»Pension Altes Haus auf Neuwerk.«

»Na, dann darf ich bitten. Hein Matthiesen mein Name.«

»Peter Ulmer. Angenehm«, stellte ich mich vor. Matthiesen stieg herab. Wir schüttelten uns die Hände, er half mir noch, das Gepäck im Fonds zu verstauen, und ich kletterte zu ihm auf den Kutschbock. Auch die Passagiere der anderen beiden Kutschen stiegen auf, und der Tross machte sich unverzüglich auf den Rückweg nach Neuwerk.

 

»Wir haben keine Zeit zu verlieren, die Flut wartet nicht«, erklärte mir Matthiesen und deutete auf den Himmel. Die Abenddämmerung tauchte die Welt um uns herum in ein mystisches blaues Licht, nur noch im Westen dank des untergehenden glühenden Sonnenballs gelblich bis orange erhellt. Den Weg durch das Watt hatte ich mir als Fahrt über glatten Sand vorgestellt, lag mit dieser Annahme aber weit neben der Realität. Rinne um Rinne hatten die Wagen zu durchqueren, und die Pferde mussten manches Mal großen Steinen ausweichen, um nicht auf ihnen auszurutschen. Jeder einzelne der groben Kiesel war zu spüren, die durch das steigende und sinkende Wasser frei gespült wurden und den Wagen hart aufschlagen ließen, wenn die Räder sie berührten.

 

Ich hatte Mühe, mich auf dem Sitz festzuhalten, obwohl die Tiere einen gemächlichen Trab liefen. So verstrich die Zeit. Als ich mich nach einer Weile umdrehte, lag das Festland mit seinen Lichtern schon weit hinter uns. Die wenigen hellen Punkte verwischten zu Noten einer Abendmelodie, die den vergehenden Tag in das Blau der Abenddämmerung gleiten ließen. Ein wohliges Gefühl stieg in mir auf, angenehme Stimmungen erfassten meinen Körper.

Seit der Abfahrt hatten wir kein Wort mehr gewechselt, sondern ließen die Stille auf uns wirken. Ich glaubte, dass sich keiner der Faszination dieser abendlichen Stunde entziehen konnte, denn auch Matthiesen sah im Profil im Dämmerlicht zufrieden aus, als ich einen Seitenblick auf ihn warf. Leise Rufe der Möwen übertrug die Luft aus der Ferne. Überall sah man Schatten von ihnen und von Säbelschnäblern, die im feuchten Schlick nach Würmern, Krebsen und Muscheln suchten.

 

Als wir einen kleinen Absatz hinunter in einen vielleicht zwanzig Meter breiten Graben fuhren, durch den seichtes Wasser strömte, meldete sich Matthiesen wieder zu Wort.

»Wir fahren gerade durch das Wasser der Weser.«

»Hm« antwortete ich und war mir bewusst, nicht besonders gesprächig zu sein. Ich wollte diesen Abendtraum nicht durch unpassende Worte stören. Trotzdem ließ mich Matthiesens soeben gegebene Information erschaudern. War die Weser nicht einer der größten Flüsse Deutschlands? Und wir fuhren hier, mitten im Wattenmeer, durch deren Wasser? Was für eine Ironie schien das zu sein.

»Ist nicht breit, die Weser hier«, meinte ich.

»Hm.« Diesmal war es an Matthiesen, einsilbig zu antworten.

»Leben sie ständig auf der Insel?«, wollte ich wissen, da ich mich doch entschloss, eine Unterhaltung zu beginnen, um mehr Informationen über die Insel und deren Bewohner zu erhalten.

»Jetzt ja, früher nein.«

»Aha. Wie viele Menschen wohnen denn auf der Insel?«

»So um die fünfundzwanzig.«

»Hm.« Ich merkte, dass Matthiesen seine Ruhe haben wollte, und der Wagen rumpelte weiter. Das Ziel unserer Fahrt war für mich nicht zu erkennen. Lange nach dem endgültigen Untergang der Sonne war kein Licht außer dem des Mondes und der Sterne am Nachthimmel mehr sichtbar. Aufgestellte Holzpfosten markierten unseren Fahrweg durch das Watt, sodass man nicht versehentlich vom Weg abkam.

»Wenn wir hier durch das Weserwasser fahren: ist die Elbe denn auch zu sehen?« Ich hatte mir die Insel auf der Landkarte angeschaut und gesehen, dass Neuwerk nicht weit entfernt von der Elbfahrrinne lag.

»Wenn Flut ist, sieht man mehr Schiffe fahren. Jetzt nicht.«

Mit diesen Worten hatte uns die Melancholie der Abendstunde wieder, und ich versank in meinen Gedanken, ohne mich vom Blick für meine Umwelt zu trennen. Nach einer Weile hörte ich eine zarte kindliche Stimme. Sie sang ein wunderschönes Lied, das ich in der Schule einmal hatte einstudieren müssen. Ein Lied von Friedrich Silcher, jenem schwäbischen Komponisten und Dichter der Romantik.

 

Es löscht das Meer die Sonne aus

kühlendes Mondlicht ist erwacht

 

»Hören Sie das auch?«, fragte ich.

»Nee«, antwortete Matthiesen. »Ich hör nur die Möwen. Was meinen Sie denn?«

»Ein Lied von Friedrich Silcher. Es heißt „Es löscht das Meer die Sonne aus.“

Ich schaute Matthiesen an, und ich sah, wie er erstarrte.

 

Der goldne Adler lässt sein Haus

müde dem Silberschwan der Nacht

 

»Ich hör das aber ganz deutlich!«, sagte ich aufgeregt.

»Ja, ja, der Klabautermann!«, lachte Matthiesen mich an. »Treibt so seine Späßchen mit uns. Aber das«, und jetzt wurde er ernst, beinahe traurig, »das wird die kleine Meerjungfrau sein. Die singt manchmal abends.«

»Die kleine Meerjungfrau?«, fragte ich erstaunt.

»Ja. Die hört man hin und wieder. Und dann passiert irgendetwas Unvorhergesehenes«, sagte Matthiesen.

»Das glaub ich nicht.«