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Gold ... eine kleine Leseprobe

...

Seattle, in den frühen Morgenstunden des Freitag, 16.Juli 1897

 

Die jungen Leute trafen sich am Hafen und liefen gemeinsam zum Kai, wo die Sea Lion in der Dämmerung der zu Ende gehenden Nacht bereits auf sie wartete. Die Seeleute halfen ihnen beim Einstieg. Insbesondere die empfindliche Fotoausrüstung erforderte einige Vorsicht beim Verladen. Die Sea Lion fuhr sofort ab und gleitete mit Volldampf über ruhiges Wasser in den Puget Sound hinein. Möwen umkreisten das Schiff und machten mit lauten Rufen auf sich aufmerksam. Im Osten brach die aufgehende Sonne hinter bewaldeten Hügeln hervor. Der schneebedeckte Gipfel des Mount Baker erhob sich majestätisch aus dem Nebel. Der Schnee, der dort in zehntausend Fuß Höhe das ganze Jahr über lag, verwandelte sich durch die Kraft der Sonne und des Einfallswinkels deren Lichtes in einen rot leuchtenden, nach oben weisenden Pfeil.

 

Die kleine Maschine stampfte unaufhörlich und entließ ihre Dampfwolken in den morgendlichen Himmel über den Puget Sound, der Seattle mit der Seestraße von Juan de Fuca und schließlich mit dem Nordost-Pazifik verband. Sie passierten verschiedene Ortschaften und Häfen entlang des Sundes, um an Hansville vorbei schließlich Port Townsend zu erreichen. Hier mündete der Puget Sound in die Straße von Juan de Fuca. Vor ihnen erstreckte sich die zerklüftete Inselwelt von San Juan, an denen vorbei der Schifffahrtsweg über die nahe kanadische Grenze nach Vancouver verlief. Die Sea Lion aber ließ das Leuchtfeuer von Port Townsend backbord und die Inseln von San Juan steuerbord liegen, um nach Westen in die Straße von Juan de Fuca einzuschwenken. Vierzig Seemeilen waren jetzt bereits zurückgelegt, für die sie knapp drei Stunden benötigt hatten. Neunzig Seemeilen lagen noch vor ihnen bis zum Treffen mit der Portland. Jason errechnete, dass der Schlepper also mit circa dreizehn Knoten unterwegs war. Da ein Knoten einer Seemeile entsprach, und die Entfernung noch circa neunzig Seemeilen betrug, errechnete er so eine verbleibende Zeit von etwas unter sieben Stunden. Wo würden sie die Portland erwischen?

 

Jason O'Connor riss an der Reling ein Streichholz an. Mit seiner Zigarette blies er kleine Rauchwölkchen in die Morgenluft. Sam Porter lehnte neben ihm an der Reling. In einiger Entfernung sahen sie eine Gruppe von Schwertwalen, die hier häufig zu beobachten waren. Sam brachte hastig seine Kamera in Stellung. Die großen Tiere durchschnitten pfeilschnell die Wasseroberfläche, um zu atmen und anschließend, Strudel erzeugend, wieder abzutauchen. Sam betätigte den Auslöser in dem Augenblick, als ein Schwertwal unmittelbar vor ihnen auftauchte. Jason war sehr gespannt auf die Aufnahme, die sicherlich morgen Vormittag zusammen mit den Aufnahmen der glücklichen Goldsucher entwickelt würden. Da die Kamera eine recht lange Belichtungszeit benötigte, würde die Bewegung des Tieres sicherlich verschwommen, eher als Schatten, auf dem Bild erkennbar sein.

 

Gold. Der Gedanke ließ Jason nachdenklich werden. Zum einen würde er sich gut überlegen müssen, wie seine persönliche Zukunft aussah. Würde er so ein Abenteuer durchstehen? Und dann die Stadt, das Land. Wie würde diese Nachricht das Leben in Seattle verändern? Er kannte die Menschen dort wie kein anderer. Geschäftsleute, Seemänner der Pazifikrouten, Walfänger, Küstenfischer. Meist raue, derbe Gesellen, die sich für kein Abenteuer zu gut waren. Matthew Porter hatte Proviant für die Zeit auf dem Schlepper sowie zwei Kisten Whisky für die Goldgräber auf der Portland bestellt, um alle bei Laune zu halten.

 

Die Sea Lion fuhr entlang der Grenze zu Kanada, und Jason konnte nördlich am Horizont die Stadt Victoria in British Columbia erkennen. Im Hintergrund, immer noch drohend, Mount Baker. Der Berg schwebte über einer undurchdringlichen Dunstschicht am Horizont.

 

Südlich erschien jetzt Port Angeles, Washington. Eine kleine Häuseransammlung in der Nähe des Leuchtfeuers wies auf die Siedlung hin. Die Straße von Juan de Fuca verengte sich hier auf wenige Meilen Breite, und die lieblichen bewaldeten Hügel der Halbinsel Olympia im Süden wiesen bereits darauf hin, dass sich Cape Flattery, das schmeichelnde Kap, in nicht mehr allzu großer Entfernung befand.

 

Sally lehnte neben Jason an der Reling, sie rauchten gemeinsam abwechselnd eine Zigarette.

»Was denkst du?«, fragte sie ihn unvermittelt.

»Worüber?«

»Alaska. Beziehungsweise den Klondike River.«

»Ein großes Abenteuer. Weiter nichts.«

»Meinst du?«

»Sally, du wirst hören, was die Goldgräber erzählen. Ich sage dir aber jetzt schon, dass ganz wenige Leute großes Glück haben, etwas mehr haben kleines Glück und sehr, sehr viele werden noch viel ärmer heimkehren, als sie vorher waren. Die erbarmungslose Natur dort oben bringt ihnen kein Geld, sondern nur Krankheit oder Tod, vielleicht bestenfalls Neid und Missgunst. Und es kommt noch eine Tatsache hinzu: Die Indianer, die dort oben leben, machen uns die Sache auch nicht einfacher. Die werden auf ihre seit Jahrtausenden existierenden Eigentumsrechte bestehen. Und man weiß noch nicht, was das Gold für sie bedeuten wird.«

»Trotz alldem reizt es mich, dorthin zu gehen.«

»Sally! Du bist verrückt. Was willst du dort oben als Frau?«

»Was wohl? Gold suchen sicherlich nicht. Nein, ich lasse andere für mich suchen. Den ganzen Tag lang. Und abends haben sie dann andere Bedürfnisse. Ich bringe Whisky und Champagner nach oben. Und vielleicht noch ein paar Mädels. Du wirst schon sehen, das Gold wird dann direkt zu uns kommen. Wir müssen uns nicht bücken.«

»Eins muss man dir lassen: Mut hast du.« Er nahm sie in die Arme und küsste sie zärtlich. In den späten Nachmittagsstunden erreichten sie Cape Flattery, das schmeichelnde, das zarte Kap. Hier an dieser Stelle hörten die bewaldeten Hügel abrupt auf und der pazifische Ozean öffnete sich sanft, ruhig und friedlich.

 

Von der Portland noch keine Spur. Den Himmel beherrschte ein überwältigendes Abendrot, mit dem sich die untergehende Sonne in die Nacht verabschiedete. Die golden schimmernden Fluten des Pazifiks ertranken in diesem Himmelslicht. Schwärme von Seemöwen umkreisten die kleine Sea Lion, die ruhig im Brackwasser vor Cape Flattery dümpelte. Jason und Sally saßen nebeneinander auf einer Bank an Bord und genossen schweigend die Abendstimmung. Jason hatte seinen rechten Arm um ihre Schulter gelegt, sie suchte bei ihm Schutz vor dem leichten Abendwind, der jetzt sanft vom Meer her aufkam. Cape Flattery, das schmeichelnde Kap. Durch das Licht der untergehenden Sonne wurde das Meer in Gold getaucht.

 

Einige Schwertwale begannen von neuem ihr Spiel. Die mächtigen Tiere jagten sich scheinbar mühelos durch das Wasser, plötzlich empor schnellend, scheinbar fliegend, um dann begleitet von einem mächtigen Schlag ihrer großen Schwanzflosse wieder im Meer zu versinken. Jason und Sally verfolgten dieses Naturschauspiel gedankenverloren. Sam Porter und Lizzy hatten sie schon lange nicht mehr gesehen. Stattdessen hörten sie leises Kichern aus dem Mannschaftsraum, unterbrochen von nur allzu menschlichen glucksenden Geräuschen. Jason und Sally lächelten sich an und drückten sich die Hände.

»Sally, hier hast du dein Gold!«

»Hmm« antwortete sie. »Aber das wird bald im Meer versinken. Was meinst du, kommt die Portland noch, oder müssen wir unverrichteter Dinge wieder heimkehren?«

»Wir warten hier. Die wird schon kommen.« ...