Nome, Alaska
Weihnachten 1898

Ein eisiger Wind strich am Weihnachtsabend durch die Gassen der Stadt. Nachmittags um drei ging die Sonne über dem Pazifischen Ozean bereits wieder unter. Nur noch wenige Menschen hielten sich am Strand auf.

Jason O'Connor trug einen dicken Wintermantel, der ihn nur noch notdürftig gegen die kriechende Kälte schützte. Am Horizont schimmerte ein milchig-schleimiges Licht, die Sonne hatte keine Kraft mehr. So kurz nach der Wintersonnenwende zeigte sie sich so weit im Norden nur noch drei bis vier Stunden am Tag.

»Welcher Teufel hatte mich bloß geritten, mich hier in dieser Wildnis unter lauter verrückt gewordenen, wilden Männern niederzulassen. Was suche ich hier?« Er wusste es nicht. Gold war es auf keinen Fall. Er saß auf einem großen Stein am Strand. Sein breitkrempiger Hut schützte ihn vor dem kalten Nieselregen, der hier am Pazifik so gerne aus den Wolken fiel. Er betrachtete das Meer, das in seiner Kraft Welle auf Welle an den Strand schickte, wo sie sich glucksend auflösten, um zurück in die Unendlichkeit des Ozeans zu strömen.

In einiger Entfernung lag die Portland vor Anker. Der Dampfer war nur schwach beleuchtet. Jason beobachtete die Rauchwölkchen, die dieses Schiff in den alaskanischen Himmel entließ. Gestern war er mit ihm aus Seattle zurückgekehrt. Jason hatte seine Berichte bei der Seattle Morning Post abgeliefert und dafür eine schöne Prämie erhalten. Es waren die ersten schriftlichen Berichte aus Nome, die vom Leben hier oben schonungslos erzählten. Jason hatte wie immer kein Blatt vor den Mund genommen und er hoffte, dass Matthew Porter, der Chefredakteur, diese Zeilen genau so abdrucken ließe. Fotografien von Matthews Sohn Sam rundeten diese Berichte ab. Auch sie zeigteen das harte und entbehrungsreiche Leben der Goldgräber hier oben in Nome. Sie zeigten den Dreck, die Krankheiten, die Schwächen der Zivilisation, die hier oben Fuß zu fassen versuchte.

Und es waren die Bilder aus dem Golden Gate Saloon. Dem Saloon, der Sally gehörte. Seiner Sally. Bis vor einer Stunde saß er dort noch am Tresen. Sie bediente und sorgte dafür, dass der Laden lief. Für ihn hatte sie keine Zeit. Die Mädchen tanzten Cancan, den Modetanz aus Europa. Im letzten Vorposten menschlichen Lebens, hier im äußersten Nordwesten des amerikanischen Kontinents. Whisky und Bier flossen in Strömen. Die letzte Lieferung war gestern zusammen mit ihm auf der Portland hier eingetroffen. Sam hatte nämlich nicht nur die Berichte bei der Seattle Morning Post abgeliefert, sondern übernahm auch den Wareneinkauf für den Golden Gate Saloon. Sam wusste nicht, warum er dies tat. Aber er unterstützte Sally, wo er nur konnte. Er liebte sie so sehr, und er war verzweifelt, denn er sah für die nächsten Jahre keine Chance, mit ihr im Süden ein neues Leben zu beginnen.

Er zitterte. Auch die Zigaretten, die er nach einander rauchte, halfen ihm nicht über seine trübe Stimmung hinweg. Die Flasche Whisky, die er mitgenommen hatte, stand noch ungeöffnet neben ihm im Sand. Er nahm sie in die Hand, schaute darauf, überlegte und stellte sie wieder hin. Die Portland lag ruhig auf Reede vor der Küste. Für das nächste Jahr war der Bau einer befestigten Anlegestelle geplant. Die Goldvorkommen, die hier im Sand lagen, waren schier unermesslich, ein Ende des Goldrauschs in Nome war nicht abzusehen.
»Weihnachten bei den Goldgräbern!« In Gedanken ging er bereits den Titel für seine nächste Geschichte durch. Er müsste sie spätestens am 26. Dezember schreiben, hatte aber noch keinen Schimmer, wie er anfangen sollte. Er war einfach ausgelaugt.
»Weihnachten in Nome!«, eine Alternative. Oder »Weihnachten im Golden Gate Saloon!« Das wäre eine Möglichkeit. Er hatte somit alles, was er schreiben wollte, bereits im Titel. Er musste sich unbedingt die ersten Notizen machen. Das war's! Klingt so wie »Weihnachten in der Spielhölle« oder »Weihnachten im Bordell!«, nur nicht ganz so dramatisch.
Vorhin hatte er schon Impressionen gesammelt. Eine kleine Geschichte! Fantasievoll, realitätsnah, ehrlich. Und diesmal sollte sie irgendwie einfühlsam sein. Vielleicht etwas mit Liebe? Passt ja zu Weihnachten!

Also brach er auf. Und da bemerkte er etwas, ganz nah. Eine Laterne kam auf ihn zu geschwankt. Wer konnte das sein? Schließlich war es ihr Platz. Sein Platz, an den er immer und immer wieder auf seinen Spaziergängen mit Sally kam. Die Laterne kam immer näher. Sally. »Mein Gott«, dachte er.
»Woher weißt du, dass ich hier bin?«, fragte er sie.
»Wo sollst du sonst sein? An so einem Abend, und in der Stadt warst du nirgends.«
»Du hast nach mir gesucht?«
»Na, was denkst du denn, du Dummerchen?« Sie gab ihm einen Kuss, der sie die Kälte und die Dunkelheit um sie herum vergessen ließ. Wärme und Licht! Das war es, was er verspürte.
»Woran denkst du?«, wollte sie schließlich wissen.
»An nichts!«
»Aha, wie immer! An nichts! Lass dir was besseres einfallen!«
»Hm«, brummte er. »Ich brauch bis übermorgen noch einen Text. Da fährt die Portland wieder nach Seattle zurück. Ich dachte an Weihnachten im Golden Gate Saloon!«
»Aha!«, sagte sie ihm zärtlich ins Ohr. »Na, dann lass uns doch gemeinsam die Geschichte schreiben!« Sie setzte sich zu ihm auf den Stein und lächelte ihn an. Dann griff sie nach der Whiskyflasche, öffnete sie, trank einen Schluck und gab sie ihm.

»Golden Gate!«, sagte sie leise. »Das goldene Tor! Oder das Tor zum Gold. Erzähl vom Leben hier oben, so wie es ist. Wie du es immer tust. Schreib noch was von Liebe dazu. Und schreib über den Saloon. Schreib über mein Leben ...« Sie stutzte über ihre eigenen Worte, wurde ernst und lehnte sich an Jason.
»Nein, lass das lieber. Schreib nichts von mir«, sagte sie ernst.

Jason fragte sich immer wieder, ob sie sich wegen ihres Berufs als Saloonbesitzerin und Prostituierte schämte. Und wenn das so war, so versteckte sie dies geschickt. Nur manchmal ließ sie eine Bemerkung wie gerade eben fallen, die in ihm diesen Zweifel nährten. Er legte seine Hand auf ihr Knie und sie blickten auf das Meer hinaus. Sie sahen die wenigen Lichter der Portland im Dunst. Der Mond schien gespenstisch herab und tauchte den Strand in ein kaltes, dunkelblaues Licht. Einzig ihre Laterne strahlte warmes Licht ab. Sie schauten um sich und sahen noch weitere Lichter am Strand.
»Wir sind nicht alleine hier!«, sagte Jason leise zu ihr.
»Hmm!«, antwortete sie einsilbig.

Im Golden Gate herrschte ausgelassene Stimmung. Jemand spielte Weihnachtslieder auf dem Klavier und die Gäste sangen dazu. Jeder in seiner Sprache. Viele kamen aus den Staaten, aber es waren noch viele weitere Sprachen zu hören. Das Völkchen hier oben im Norden kam aus aller Herren Länder, um ihr Glück zu versuchen. Es waren auch Menschen aller Hautfarben hier, die diese Erde zu bieten hatte.

Jason und Sally zogen sich bald darauf auf ihr Zimmer zurück. Sie legte sich auf ihr Bett und schaute ihn an. Er spürte, dass sie mit ihm reden wollte. Aus dem Saloon klangen die mit rauen Stimmen gesungenen Weihnachtslieder zu ihnen herauf.

Jason hatte von unten eine Flasche Champagner und zwei Gläser mit hinauf gebracht, öffnete die Flasche und goss ein.
»Frohe Weihnachten, Sally!«
Sally war wieder aufgestanden, riss ein Streichholz an und entzündete zwei Kerzen. Anschließend löschte sie die helle Petroleumlampe. Ein schwefliger, russiger Duft verteilte sich im Zimmer. Beide setzten sich auf die Bettkante.
»Frohe Weihnachten, Jason!« Sally gab Jason einen derben Kuss, den dieser erstaunt erwiderte, sich aber gleich wieder von ihr löste. Er nahm einen großen Zug aus dem Champagnerglas.
»Was feiert man eigentlich genau an Weihnachten?« Sie schaute ihn fragend an.
»Das weißt du nicht?«
»Nicht genau. Du weißt doch, ich ging nur vier Jahre zur Schule.«
»Und in die Sonntagsschule?«
»Meine Mutter wohnte im Bordell! Jason, ich bitte dich! Da herrschten andere Sitten, als seine Kinder in die Sonntagsschule zu schicken.«
»An Weihnachten wurde Jesus Christus geboren!«
»Das hab ich gehört.«
»Er war der Sohn Gottes!«
»Geboren von der Jungfrau Maria!« Soviel wusste sie zumindest. »Also bitte, Jason! Eine Jungfrau ist eine Jungfrau! Glaub mir, ich kenn mich da aus. Die kann nichts gebären!« Sally nahm einen Schluck aus ihrem Glas und schaute Jason neugierig an.
»Sally, ja und nein. Du musst das mit der Jungfrau mehr im übertragenen Sinne betrachten. Gott wollte uns seinen Sohn schicken. Und er wollte eben, dass Maria ihn zur Welt bringt.«
»Und wo war das dann?«, fragte sie ihn neugierig. Beide blickten zum Fenster hinaus, denn draußen heulte der Wind. Es war wohl ein Schneesturm aufgezogen.
»In einem fernen Land am Mittelmeer!«
»Und wann genau?«
»Na, heute genau vor eintausendachthundertachtundneunzig Jahren!«
»Mann, ist das lange her!«, stellte sie leicht beschwipst fest. Sie saßen beide auf der Bettkante und sie lehnte sich gegen ihn. Seine ruhige und bedächtige Stimme liebte sie. Und jetzt war es an der Zeit für sie, innerlich vollkommen loszulassen. Die ganzen letzten Jahre hatten sehr an ihr gezehrt, hatten Kräfte genommen, ohne ihr etwas wirklich zu geben. Und jetzt saß sie neben Jason und hörte ihm im Kerzenschein zu.

Sally merkte nicht, wie sie sanft hinüberglitt, während er ihr von dem Stall, der Krippe, von Ochs und Esel, und schließlich von den Heiligen Drei Königen erzählte.

Sally schlief fest, an Jason gelehnt. Er hatte längst aufgehört zu erzählen. Nach und nach trank er aus der Whiskyflasche und blickte zum Fenster hinaus in den Schneesturm.

Sie hörten nicht mehr, wie die Flasche auf den Boden stürzte. Die Kerzen waren längst ausgegangen, und beide lagen friedlich nebeneinander auf dem Bett.

 

Text: Alexander Courz
Bilder: Pixabay