Atlantische Untiefen ... eine kleine Leseprobe

Alle Bilder: © Alexander Courz

Donnerstag, 28. Mai 1896

Kapstadt

 

 

Am Hafen herrschte reges Treiben. Fuhrwerke wurden beladen mit Säcken, Fässern, Kisten. Lärm erfüllte die Szenerie, Lärm von den Aufsehern, die die schwer beladenen Lastenträger über waghalsig gelegte Bretter auf die Schiffe trieben. Die großen, sperrigen Frachtstücke wurden mit dem Ladegeschirr der Schiffe an Bord gehievt.

 

Eine elegante, mit zwei Schimmeln bespannte Kutsche hielt am Kai. John, der Kutscher, reichte Mrs. Reid die Hand und half ihr beim Aussteigen, während ihr Mann Anweisungen für das Gepäck gab. Die Berührung mit dem Kutscher tat ihr gut, tauschten sie in Bruchteilen von Sekunden doch alle Gefühle der letzten Jahre aus.

 

»John, hilfst Du mir auch?«

Elly jauchzte vor Vergnügen, als John sie mit seinen starken Armen herab hob.

»Auf Wiedersehen, mein kleiner Räuber. Du wirst uns allen hier fehlen.«

»Auf Wiedersehen, John!« Die Kleine umklammerte seine Beine. Sie konnte sich nicht von ihm trennen.

»Jetzt musst du gehen, sonst wird deine Mama noch böse.«

»Ich will aber nicht, ich möchte hier bleiben.« Liebevoll spannte John den kleinen Schirm für Elly auf. Sie nahm ihn und stolzierte damit zweimal um ihn herum. »Sie will nicht«, dachte John. »Sie will nicht.«

 

Spielerisch reichte sie nun John ihre rechte Hand, der sie ergriff und ihr formvollendet einen Handkuss gab.

»Ich bin jetzt eine feine Dame!«, sagte sie vergnügt.

»Jetzt muss die feine Dame aber gehen, sonst fährt das Schiff ohne sie nach England!« Er begleitete sie raschen Schrittes zu ihren Eltern, die die Drummond Castle bereits erreicht hatten. Elly folgte John an der Hand. Nachdem auch ihre Eltern sich von ihm verabschiedet hatten, sah John ihnen nach, wie sie die Gangway entlang liefen und das Schiff betraten.

 

Captain James Irving saß im Büro der Empire Mail Steamship Co., um letzte Dinge zu besprechen. Er hatte bereits alle Weltmeere befahren und sich für die Stelle auf der Drummond Castle beworben. Die Empire Mail Steamship Co. betrieb Postverbindungen zwischen Großbritannien und den Kolonien. Kapstadt war einer der Hauptumschlagplätze der Gesellschaft. Im Büro herrschte ein Kommen und Gehen, wie immer, kurz vor einer Abfahrt. Im Telegrafenbüro konnten die Passagiere letzte Telegramme aufgeben. Geschäftigkeit allenthalben. Für die Passagiere eine letzte Hektik vor der langen Ruhe an Bord. Beim Betreten des Schiffs streifte man das Hier und Jetzt förmlich von sich ab. Hier herrschten andere Mächte. Die Passagiere gaben ihr Leben in die Hand der Offiziere, der Steuermänner. Und in die Hand des Meeres mit seiner Kraft, seiner Gewalt, seinen Tiefen, und vor allen Dingen seinen Untiefen. Felsen, deren Spitzen unsichtbar unter der Meeresoberfläche lauerten.

 

Quietschend schwang die große Tür auf, und zwei ungepflegte Männer betraten das Büro.

»Johan Durason mein Name, und das hier ist Sven Mathiesen. Wir haben eine Reservierung für die Drummond Castle

»Wo ist ihr Gepäck?« Der Officer runzelte die Stirn.

»Wir haben so gut wie kein Gepäck, Sir. Das Schicksal hatte uns übel mitgespielt. Wir waren Passagiere auf der Villuria. Sie wissen, was geschah.«

»Allerdings, Sir, war ja ziemlich dramatisch. Ich kann Ihnen versichern, dass Ihnen Ähnliches auf der Drummond Castle nicht widerfährt. Ist das der Grund, Sir, weshalb Sie kein Gepäck haben?«

»Ja.«

»Hier liegen die Tickets für Sie bereit. Wie Sie wissen, übernimmt die Empire Mail Steamship Co. als Verursacher der Havarie der Villuria die Kosten für Ihre Heimfahrt.«

»Ja, Sir, vielen Dank.«

»Falls Ihnen etwas fehlt, melden Sie sich bitte bei Captain James Irving.« Mit diesen Worten deutete er auf den Captain.

»Die Papiere sind soweit in Ordnung. Bevor ich den Befehl zur Abfahrt gebe, lasse ich die Listen holen, die für das Schiff bestimmt sind. Aber jetzt muss ich an Bord, letzte Kontrollen durchführen, und dann good bye, Kapstadt.« Mit diesen Worten verließ der Captain das Büro eiligen Schrittes.

 

»Komm jetzt endlich!« Mrs. Reid zischte Elly an. Der Regen hatte in der Zwischenzeit nachgelassen. Das kleine Mädchen war fasziniert von den Kränen, den Fuhrwerken, und den Lokomotiven mit Güterwaggons.

»Elly, komm jetzt.«

»Wo ist Papa?«

»Papa sitzt in der Kabine und liest.«

»Was ist eine Kabine?«

»Die Kabine, mein Schatz, ist der Raum, in dem wir auf dem Schiff schlafen werden.«

»Ach so,« sagte sie und spähte weiter zu den anderen Schiffen hinunter.

 

John stand immer noch unten am Kai. John, mit all seiner Liebe. Sein muskulöser, schlanker Körperbau, von der harten Arbeit auf der Plantage gestählt. Sein afrikanisches Gesicht. Sein sanfter, liebevoller Blick. Seine tiefe Bassstimme. Sie dachte an die heimlichen, schönen Stunden mit ihm. Die wenigen Stunden einer vertrauten, intimen Zweisamkeit. Stunden, nicht nur erregender Sexualität. Diese Stunden standen für mehr. Für etwas, das sie mit ihrem Mann bislang nie hatte. Für ein Verstehen, einen gegenseitigen Respekt, den sie von jemand anderem noch nie erfahren durfte. Ihr Mann, Sohn aus großbürgerlichem Handelshaus, verwöhnt, erzogen von der Mutter für die schönen Künste. Sein zarter Körper, sein feinfühliger Charakter, sein Schöngeist, seine Schwäche. Aber ihr Mann war ihr bis heute nicht wirklich zugetan. Sie winkte John zu, ihre Augen trafen sich noch einmal. Stille Tränen flossen. Abschied. Für immer? Wer weiß.

 

Der Abend senkte sich zur Nacht. Die Drummond Castle war eine schwimmende Insel des Lichts im dunklen Meer. Kurz nach der Abfahrt hatte der Captain die Segel setzen lassen. Der günstige Wind musste unbedingt ausgenutzt werden. Captain James Irving, der erste und der zweite Offizier, James Burten und Oliver Mason, besprachen die Lage.

»Die Wetterlage ist zu ruhig für diese Jahreszeit. Was ist Ihre Idee, warum sind so wenig an Bord?«

»Ich würde sagen, unsere Geschwindigkeit. Als Passagier-, Fracht- und Postdampfer sind wir nicht so schnell wie die reinen Passagierschiffe. Mit unserer Sechshundert-PS-Maschine können wir keine fünfzehn Knoten schaffen wie die Schnelldampfer. Die haben zwölftausend PS.«

»Was sollten wir also tun?«

»Wir sollten uns überlegen, Meeresströmungen auszunutzen.«

»Sie wissen, dass solche Experimente fatal enden können.« Mason zündete sich eine Zigarette an und und schaute auf die Seekarte.

»Denken Sie an Cap Finisterre im Nordwesten Spaniens, die Biscaya, oder an die Einfahrt in den Ärmelkanal bei Ouessant. Außerdem eines noch: Wir haben zweihundertfünfzig Tonnen Kohle geladen. Die sind fast verheizt, wenn wir den Ärmelkanal erreichen. Weiter haben wir Schafwolle, Häute, Felle und sonstigen Kram, insgesamt rund vierhundertfünfzig Tonnen geladen. Dazu kommen zehn Tonnen Aprikosen und fünfzig Tonnen Pfirsiche in unseren Kühlräumen. Wir hätten mindestens das Doppelte dessen laden können, wenn wir nicht so schnell nach London zurückkehren sollten. Sie wissen, dass am 8. Juni die Lizenz für die Drummond Castle abläuft. Und deshalb fallen auch die Zwischenstopps auf St. Helena, Ascension und Cap Verde aus, die uns einiges mehr an Ladung gebracht hätten. Und an Gewicht, das dem Schiff doch auch immer Stabilität verleiht, die wir jetzt nicht haben.«

»Durch die geringe Zuladung erscheint mir bei Ouessant die Passage du Fromveur aber interessant, wo wir schließlich viele Meilen abkürzen können«, gab James Burten zu bedenken.

»Sind sie verrückt? Das Risiko ist einfach zu hoch. Tagsüber mag das noch gehen bei Flut und bei guter Sicht, diese enge Passage zwischen Ouessant und Molène zu nehmen. Diese Gegend ist der reinste Schiffsfriedhof. Außerdem bedenken Sie die Strömung dort. Allein bei Flut beträgt sie vier bis fünf Knoten, das Schiff ist dann kaum manövrierfähig.«

»Wir werden das kurzfristig entscheiden. Das ist jetzt noch nicht unser Thema.«

 

Captain James Irving verließ die Brücke und ging auf das Deck, das den Passagieren der ersten Klasse vorbehalten war. Er zündete sich eine Zigarette an und schaute über das Meer. Eine Dame, die ihm vorhin am Speisetisch der ersten Klasse gegenüber gesessen hatte, lehnte an der Reling.

»Guten Abend, Mrs. Reid«. Irving gesellte sich zu ihr. »Eine schöne Nacht, nach all dem Regen heute den ganzen Tag über.« Es gehörte zu den angenehmen Pflichten des Captains, sich mit den Passagieren der ersten Klasse zu unterhalten.

»Guten Abend, Sir.«

»Ihre erste Seereise?«

»Gott bewahre, nein. Es ist meine vierte.«

»Gehen Sie auf Besuch nach England?«

»Geschäftlich. Eine bedeutende Reklamation eines Kunden. Eine Partie Tee war havariert, und jetzt geht es um die Bezahlung. Die Sache wird vor Gericht verhandelt.«

»Eine ernste Angelegenheit. Das tut mir leid.«

»Was für ein wunderbarer Abend«, sagte sie. Er zog an seiner Zigarette. Sie betrachteten den klaren Sternenhimmel. Musik drang aus den Gesellschaftsräumen der ersten Klasse. Walzerklänge vermischten sich mit sanftem atlantischem Wind, dem Rauschen und Brechen der Wellen am Schiffsrumpf sowie dem leisen Knattern der Segel zur Ouvertüre einer atlantischen Oper.